Der Mann an der Haltestelle

Jeden Tag, um 8:35 Uhr, steht er an der Haltestelle. Immer, wenn ich auf dem Weg zur Arbeit etwas zu spät dran bin, sehe ich ihn kurz im Vorbeifahren. Ganz aufrecht steht er dort, in seiner schwarzen Jacke, die Aktentasche in der Hand, den Blick starr und ausdruckslos ins Nichts gerichtet. Still und stumm, bewegungslos, regungslos, emotionslos. Er wirkt weder munter, noch müde, weder gestresst, noch entspannt. Er hat eigentlich keine Wirkung, ist weder schön noch hässlich, weder jung noch alt.

 

Und doch ist er mir aufgefallen, und doch schreibe ich über ihn. Dieser Mann ist tatsächlich vollkommen. Vollkommen unscheinbar. Er ist so unscheinbar, dass es schon wieder auffällig ist.


Jeden Morgen steht er dort – der Mann an der Haltestelle. Still und stumm, wie eine Karikatur. Die Karikatur eines Spießers, eines einsamen Menschen, eines Statisten, den man irgendwo platziert hat. Solche Typen sieht man eigentlich nur in Filmen,  als Kulisse, die niemand bewusst wahrnimmt. Doch wie ich feststellen musste, gibt es sie auch in der realen Welt. Tag für Tag stehen sie an irgendwelchen Bushaltestellen.


Der stille Mann könnte in einem Reihenhaus wohnen, mit einer lieben Ehefrau und braven Kindern – oder mit einem nervigen Hausdrachen und völlig verzogenen Gören. Er könnte auch vereinsamt in einer kleinen Wohnung leben und lange schon seinen Suizid planen. Vielleicht ist er auch der ruhige Angestellte, der in seiner Aktentasche schon seit Jahren, gleich neben seiner Brotdose, die 45er mit sich herumträgt und eines schönen Tages plötzlich, ohne Vorwarnung, Amok läuft und zuerst seinen Chef und dann die ganze Belegschaft niedermäht. Möglicherweise  zieht er aber auch des Nachts durch die Straßen und ermordet Prostituierte. Er könnte ein Buchhalter, Sachbearbeiter oder Bankangestellter sein. Vielleicht fährt er jeden Tag, nach der Arbeit, zu seiner kranken Mutter und kümmert sich rührend um sie, trifft sich abends mit seinen Freunden auf ein Bier und erzählt lustige Geschichten.


Jeden Morgen steht er dort – der Mann an der Haltestelle. Still und stumm, wie ein Symbol. Ein Symbol der Hoffnungslosigkeit. Ein Leuchtturm, der verloschen ist. Doch kürzlich ist etwas passiert. Etwas Unerwartetes, etwas Neues, etwas schier Unglaubliches. Der Mann an der Haltestelle hat sich bewegt, seine Aktentasche stand neben ihm auf dem Bürgersteig. Er hatte den Kopf gesenkt und blickte angestrengt auf ein Smartphone, das er dicht vor sein Gesicht hielt. Seine Finger tippten eifrig auf das Gerät ein –still, stumm, emotionslos - aber nicht bewegungslos, nicht regungslos. Ich war sprachlos. Seit dem habe ich ihn zweimal gesehen  - jedes mal in der gleichen Position.  


Tag für Tag sieht man Hunderte von Menschen. Die meisten sieht man nicht wirklich, manche fallen ins Auge und sind nach ein paar Minuten vergessen. Doch dieser stumme Mann, der Unauffälligste von allen, fällt auf, verleitet zu Spekulationen und regt die Phantasie an.


Letztlich sind es nicht die lauten, schrillen Töne, die im Gedächtnis bleiben. Es sind die Zwischentöne und es sind die leisen Töne, die so viel intensiver klingen, als das lauteste Geschrei.


Der stille, stumme, reglose Mann – das Symbol der Hoffnungslosigkeit – hat sich eines Tages bewegt.  Das kann nur eines bedeuten: Hoffnung gibt es immer!

 

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