Der erste Versuch

Die Stadt war nicht so laut wie sonst, die Hitze des Sommers staute sich und dämpfte die Geräusche ebenso wie der Schnee im Winter es tut - die Luft war schwer. Am Rand des großen Brunnens saßen die Menschen, Kinder plantschen im Wasser, alles schien langsamer zu laufen auf diesem Platz. Von Zeit zu Zeit wehte ein sanfter, warmer Wind zwischen den hohen Häusern. Die Autofahrer auf den Straßen waren gereizt und ein ständiges Hupen erfüllte die Luft.

 

Sie kam aus der Eisdiele, schleckte genüsslich an dem kühlenden Eis und ging langsam im gleißenden Sonnenlicht an den vielen Menschen und dem sprudelnden Brunnen vorbei. Ohne zu überlegen betrat sie die große Kathedrale. Kühle Luft und der Geruch von Weihrauch schlug ihr entgegen. Merkwürdig, diesmal gefiel ihr dieser Duft sogar und sie sog ihn tief ein. Es war dunkel hier drin, wenige Menschen schauten sich die Kunstwerke an und die Mittagssonne konnte die großen, bunten Fenster nicht durchdringen. Langsam ging sie durch das große Hauptschiff und betrat dann eines der Seitenschiffe. Hier war ein besonders schönes Fenster zu sehen, dass ihr bei ihren früheren Besuchen noch nie aufgefallen war. Das Licht reflektierte in wundersamen Farbtönen und für einen Moment hielten die Farben und die Stille sie gefangen. Sie schaute genauer hin, machte einen Schritt auf das Fenster zu und trat aus dem Dunkel der Kirche auf einen Felsvorsprung.

 

Sie stand auf einem hohen Berg und vor ihr lag ein grünes, fruchtbares Tal im hellen Sonnenlicht. Verwundert drehte sie sich um, hinter ihr war eine dunkle Höhle. Sie schaute wieder auf die sanften grünen Hügel die in unzähligen Grüntönen vor ihr lagen, durchzogen von einem kleinen, gewundenen Fluss. Weit entfernt konnte sie einen tiefblauen, glitzernden See erkennen und dahinter einen riesigen Urwald. Ein Adler zog ruhig seine Kreise über dem Land, sonst war kein Lebewesen zu sehen.

 

Sie setzte sich ins Gras - und Zeit und Raum verschmolzen. Sie spürte die Sonne im Gesicht und den Wind in den Haaren. Der Duft von frischem Gras, uralten Wäldern und schweren, süßen Blüten stieg ihr in die Nase. Sie war einfach nur, sonst nichts. Oder war sie gar nicht mehr – sie verschmolz mit der Landschaft, den Farben, dem Licht, den Gerüchen...

 

„Entschuldigen Sie, aber wir schließen gleich“ drang es leise in ihr Ohr. Langsam drehte sie sich um und hinter ihr stand einer dieser alten Kirchenmänner. Verwirrt schaut sie ihn an, dann blicke sie wieder hinter sich und sah nichts als ein buntes Mosaik-Fenster. Sie fröstelte. Der alte Mann lächelte sie auf eine merkwürdige Weise an: „Besuchen Sie uns bald wieder“ sagte er noch, sie nickte und eilte wortlos zum Ausgang.

 

Als sie die schwere Tür öffnete schlug ihr ein heftiger Wind ins Gesicht, der Himmel war tiefschwarz und Blitze zuckten in der Ferne. Die wenigen verbliebenen Menschen auf dem Platz eilten so schnell sie konnten zu einem schützenden Ort. Die ersten dicken Regentropfen klatschen auf den Asphalt. Sie schaute noch einmal in die dunkle, jetzt unheimlich wirkende Kirche und stieß dann entschlossen die Tür auf und trat in den immer stärker werdenden Regen.

 

Langsam ging sie über den jetzt menschenleeren Platz, sie spürte wie der Regen ihre Kleidung durchdrang, wie der Sturm ihre Haare zerzauste und sie in ihr Gesicht schlug – und es fühlte sich gut an - es fühlte sich nach Leben an.

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Eva (Samstag, 05 Oktober 2019 23:25)

    Ich liebe diese Geeschichte so sehr! Immer wieder schön sie zu lesen! Danke dafür.